Essay

Was ist Kunst? Und was ist gute Kunst?

Reflexionen zur Einordnung von Kunstwerken.

 

Kunst, so meinte Ernst Gombrich, Kunst gibt es gar nicht. Es gibt nur Künstler.

Diese klare Aussage setzte der große Kultur- und Kunsthistoriker an den Anfang eines berühmten Buches - um sich dann über mehrere hundert Seiten hinweg mit der Kunst im Allgemeinen und den verschiedenen Epochen und Stilen im Besonderen zu beschäftigen. („Geschichte der Kunst“ heißt dieser Klassiker.)

 

Mit der Definition von Kunst tun sich viele schwer. Zu groß, wichtig, bedeutend kommt sie den meisten Menschen daher. Und vor allem zu fluide, schwammig und so ungemein subjektiv.

 

Machen wir es uns doch mal ganz einfach mit der Definition von Kunst – und nutzen dafür ein berühmtes und recht unumstrittenes Kunst-Werk als Beispiel: Mozarts Requiem.

Seine Größe und Mächtigkeit werden wohl die meisten Menschen, die es je gehört haben, bestätigen.

Aber wieso eigentlich? Warum wird das Requiem so empfunden?

Sicherlich, weil es zu rühren vermag. Zu berühren.

 

Die nächste Frage ist jetzt: Was ist da, das rührt? Und was, welche Region berührt es, dieses, was zu rühren vermag?

Rühren, Rührung – das klingt erstmal ziemlich blöde. Und doch ist es – angesichts von Mozarts Requiem ist das unverkennbar – etwas sehr reales, wirkliches. Und wirkmächtiges.

Für dieses Wirkmächtige kann man den Begriff des Poetischen verwenden.

 

Kunst ist somit jenes, was das Poetische hat.  

Ein Kunstwerk ist ein poetisches Werk. Ein Werk mit Poesie.

 

Natürlich gilt auch in der Kunst das Subjektive. Und so kann es sein, dass einer Person ein Werk wegen seiner großen poetischen Kraft geradezu heilig ist, und doch für einen anderen öde Langeweile und Lärm darstellt. Nicht jeder mag Wagner. Nicht jeder Mötley Crue, Nicht jeder isländische Volksmusik.

Und das gilt natürlich genauso für zeitgenössische Künstler der bildenden Kunst wie Anselm Kiefer, Peter Doig oder Damien Hirst. 

 

Man darf sicher sein: Die Menschen werden niemals darüber einig sein, was nun poetisch ist. Stets wird es Dissens darüber geben, welches Werk eine große poetische Kraft hat, welches wenig oder gar nicht.

Einigen aber können wir Menschen uns über die Existenz des Poetischen.

Und wir können alle zugeben, dass es eines der großen Rätsel ist – weil hier etwas jenseits des bloß Menschlichen, etwas größeres, höheres, zauberhaftes wirkt. Ob nun durch menschliche Kunstwerke wie Schriften, Bilder, Musik. Oder durch Zwischenmenschliches oder dem Erlebnis von Natur, Landschaft, Wind und Wetter. 

Und wir können uns darauf einigen, dass wir das Poetische nicht sehen, lesen oder hören – sondern erleben. Wir hören Mozarts Requiem – und erleben dabei das Poetische. 

 

Soweit zu einer Definition von Kunst und Kunstwerken.

Nun zu dem anderen Punkt: Was ist gute Kunst?

 

Diese Frage erscheint schon angesichts der Subjektivität des Kunst-Erlebnisses als geradezu dämlich. Genauso könnte man fragen: Welches ist das beste Essen? Welches die schönste Landschaft?

 

Und doch gibt es den Kunstbetrieb, in dem darüber diskutiert wird, welcher Künstler besonders gut sei. Und es gibt Experten, die bereitwillige Interessenten darüber informieren, welche der zeitgenössischen Künstler und Werke von Wert seien – und warum. Welche Künstler in den kleinen, begrenzten Kreis derjenigen gehörten, die es wert genug sind, ausgestellt, gefördert, gesammelt, gekauft zu werden.

So als ob es unabhängige Richtlinien für Kunst gäbe. Dabei braucht man kein Kunsthistoriker zu sein, um klar zu sehen, dass unabhängige Bewertungskriterien und -Maßstäbe für die Kunst nie existierten und nie existieren werden. Tritt doch neben die o.g. Subjektivität des Erlebens auch noch die Unfassbarkeit des zeitgenössischen Geistes, der Entwicklung der Moden, des Geschmacks, des Kunstmarktes.

 

Zurück zur bildenden Kunst. Und zwar zu Bildern, zu merkwürdig kraftvollen Bildern (die man natürlich nur subjektiv so erleben kann), wie z.B. die von Claude Monet, Jan van Eyck, Philipp Otto Runge. Wie kommt es zu dieser besonderen Wirkung?

 

In einer anderen Studie stellte Ernst Gombrich naturalistische, illusionistische Bilder schöpferischen Bilder gegenüber.

Naturalistische Bilder sind solche, die versuchen Objekte (wie Landschaften, Menschen etc.) abzubilden. Also möglichst genau darzustellen. Hier ist das Bild also Nachahmung.

Schöpferische Bilder haben ein komplett anderes Wesen als naturalistische.

 

Gombrich nutzt zur Erläuterung das Beispiel des Steckenpferdes. Des realen, echten, das im Kinderzimmer zum Einsatz kommt – und aus einem Stock mit einer Verbreiterung, vielleicht sogar einem nachgemachten Pferdekopf besteht.

Für das Kind ist dieses Steckenpferd, so Gombrich, keinesfalls das Abbild eines Pferdes. Es ist auch nicht Symbol eines Pferdes oder Zeichen für ein Pferd.

Es IST ein Pferd. Denn: Gleich der Fee, die durch Schwingen ihres Zauberstabes Dinge erscheinen, verschwinden, fliegen lassen kann, vermag das Kind mit seiner Phantasie sogar einen umgedrehten Besen in ein Pferd zu verwandeln und mit ihm über Prärieweiten in viele Abenteuer zu gallopieren.

Dabei, so ist zu vermuten, wird dem Kind die Verwandlung umso leichter fallen und das Erlebnis umso intensiver erfahren, desto mehr Reit-Erlebnisse und Pferd-Erlebnisse es bereits selbst hatte. So wird es das Tier unter sich sogar riechen und hören, die Galopp- und Sprungbewegungen spüren können.

 

Dieses Steckenpferd-Beispiel ist klar und deutlich, und doch etwas unpassend für die Frage nach den schöpferischen Bildern.

Denn beim o.g. Beispiel ist es ja das Kind, das verwandelt – und nicht der Besen. Es ist das Kind, das schöpferisch ist – und der Besen ist nur ein beliebiges, auch austauschbares Substitut für etwas, das es zwischen den Beinen hält.

Die Kirchenmadonna von van Eyck ist aber weder beliebig noch austauschbar. Ebenso Mozarts Requiem! Es ist unverwechselbar – und das poetische Erleben beim Hören dieses Werks scheint ohne es kaum möglich.

Andererseits gilt auch: Es ist dann ein Zuhörer, ein Subjekt, eine Person, die das Poetische des Requiems in sich drinnen erlebt. Und die Person wird das Poetische umso einfacher und größer und mächtiger erleben, desto offener und durchlässiger sie dafür ist.

 

Wie man es dreht und wendet: Es ist und bleibt eine subjektive Angelegenheit, das gesamte Leben. Auch das der Kunst. Auch und gerade das der guten Kunst.

 

Und doch! Es gibt etwas, das schöpferisch, groß in Kunstwerken ist.

Liebermanns Portaits oder seine Stücke von der Nordsee sind eben nicht hübsch anzusehen, nette Dekoration. Sie sind mehr, anders. Sie haben eine Art von Kraft, die etwas innen drinnen bewegt. Anrührt. Verändert.

Etwas verstummt. Etwas anders beginnt sich zu regen.

 

Warum sich schöpferische Kunst nicht einfach produzieren, herstellen, herbeiführen lässt, ist ein Rätsel. Das Schöpferische wird anders geboren.

Wenn wir überhaupt etwas über die Entstehung von Kunst sagen können, dann vielleicht, dass sie mit einem gewissen Können zusammengeht. Einem Können, das sich mit den Werkzeugen seines Bereiches (wie Harmonielehre in der Ton-Kunst, Marmor-Bearbeitung in der Bildhauerei) derart gut auskennt, dass der Künstler sie ohne Nachdenken, wie im Schlafe, leicht und spielerisch einsetzen kann.

Dazu ist bei der Entstehung von Kunstwerken oft eine gewisse geistige Unabhängigkeit, oft eine Absichtslosigkeit auszumachen. Man denke an Picasso, da Vinci, Michelangelo, denen man quasi alles, was sie schufen, geradezu aus den Händen riss. 

 

Damit aber sind auch diese Kunstwerke weder erklärt noch bewertet.

Nun könnten wir weiter in die Kunsttheorie vordringen. Und wir könnten uns dazu beschäftigten mit der kulturellen Bedeutung von gewissen Formen und Farben im Allgemeinen und der Bedeutung im 20. und 21. Jahrhunderts im besonderen. Wir könnten fragen z.B. nach dem Leben von Portraitierten oder bei Meeres-Bildern nach der Verzahnung des Meeres mit der menschlichen Evolution, mit der Globalisierung, mit dem Klima. Wir könnten herausarbeiteten, wie sich die Meer-Thematik in der Kunst der verschiedenen Epochen spiegelt... Wir könnten soviel und würden so viele interessante Antworten und Themen und Informationen erhalten.

Nur, dem Geheimnis der Bilder kämen wir so nicht näher.

 

Kunst, so kann man vielleicht sagen, ist gerade nicht zu enträtseln, gerade nicht zu begreifen, gerade nicht rational zu erfassen.

Kunst enthält im Kern ein Geheimnis.

Und dieses Geheimnis ist eines, das sich selbst bewahrt.  

An Rettig  von Westphalen im Oktober 2018